Panzerkoller - um 1600

  • Jetzt wird er zum GroMi? Das ist doch «Fantasy»! Geht es dem noch gut?!? Was läuft hier eigentlich genau? 😱

    Wenn der Herr Weinhold Zeug aus seiner Sammlung zeigt, sind die Stücke doch in den aller meisten Fällen dicht an historische Vorlagen angelehnt, oder haben in der Regel ein konkretes Original zum Vorbild. Stimmt. Aber ab und zu kommen gelegentlich – beispielsweise zum Thema Blankwaffen oder auch bei Helmen ist es schon vorgekommen – auch mal Exoten oder ganz selten sogar reine Interpretationen zum Vorschein, die keine konkrete Vorlage haben.

    So auch bei dieser hier gezeigten Variante eines Harnischs, einem - ich nenne ihn - «Panzerkoller» um ca. 1600. Hier handelt es sich um ein Stück, für das es so konkret umgesetzt kein historisches Vorbild gibt und es dennoch als Hypothese so spannend für mich war, dass es einen Platz in meiner Sammlung fand und ich es euch nun heute einmal vorstellen möchte.

    Ein Panzerkoller? 🧐 Wie kommt der da drauf? 🤔 Hier beginnt – neben dem Stück selbst, auf das ich gleich noch tiefer eingehe – der faszinierende Teil für mich, in den ich euch gerne ein Stück mitnehmen möchte. Wie bereits schon angesprochen, hat explizit dieses hier gezeigte Stück keine historische Vorlage. Ich spreche es also als hypothetisch mögliche Variante an und bezeichne es hier als «Panzerkoller».

    Schutzausrüstung im historischen Kontext gesehen, ist eine sehr spannend Sache. Die Entwicklung des Harnischs über die Jahrhunderte zeigt etliche Varianten – wie z.B. den allseits bekannten Ringpanzer oder später den Plattenharnisch - auf, die viele Interessierte kennen. Es wurde permanent neues entwickelt und teilweise tauchten «alte Bekannte» auch Jahrhunderte – teils in geänderter Form und für andere Einsatzzwecke gedacht - später immer mal wieder mal auf. Das über die Zeit aber auch immer wieder Dinge ausprobiert und damit experimentiert wurde, zeigen uns – mit etwas Glück – erhaltene Realien oder auch Bildquellen. Auch wenn es in diesem Fall hier nur sehr wenige sind…

    Kleidungsstücke nachträglich zu bearbeiten oder sie von Beginn an so herzustellen, dass sie wie eine Art Rüstung gegnerische Einflüsse – wie Hiebe & Stiche, etc. - abdämpfen, um den darin steckenden Träger zu schützen, sind uns im Laufe der Geschichte einige bekannt. So gab es in der Antike beispielsweise schon Varianten wie den Leinenpanzer (Linothorax) oder – um ganz einfach und grob im Mittelalter zu bleiben – über lange Zeit Textilrüstungen, die einzeln oder als Unterrüstung getragen wurden. Aber bleiben wir bei dem speziellen Stück, um das es hier gerade geht.
    Im historischen Museum in Bern ist eine Weste – datiert auf das späte 15. Jhd., bzw. um 1500 - ausgestellt, die optisch nahe an die oben gezeigte Variante herankommt (Beispielbild unten links in der Collage). Nur ist bei dem Stück aus Bern kein Kettengeflecht eingenäht – obwohl es den Anschein erweckt -, sondern es wurden ausschliesslich vier Lagen Leinen aufwendig miteinander vernäht, um tausende kleine Verdickungen zu erzielen, die den Träger schützen sollen. Bei einem weiteren erhaltenen Stück, dass in Würzburg aufbewahrt wird und das meines Wissens ins 16. Jhd. zu datieren ist, sehen wir – wie bei der Hypothese hier – zahlreich eingenähtes Kettengeflecht (Beispielbilder oben in der Collage). Und zwar Ring für Ring einzeln verarbeitet und eingenäht. Dieses Exemplar fällt deutlich länger aus als die Weste aus Bern und scheint eine Art Wams oder Koller darzustellen. Weiterhin sind für das 16./17. Jhd. Stücke erhalten, bei denen kleine Metallplättchen eingenäht wurden. Auch von Stücken, die durch aufgenähtes Leder verstärkt wurden, las ich.


    Den Rüstungsinteressierten unter euch wird aufgefallen sein, dass Kombinationen aus Leder, teils Leinen und Metallplättchen bereits im ausgehenden 13. Jhd. ein Thema war und daraus die frühen Plattenröcke, später dann die Brigantinen des 14. Jhd. entstanden. Diese wurden zum besseren Schutz über z.B. einem Ringpanzer getragen. Bei der hier gerade besprochenen Weste, dem Wams oder auch Koller, handelte es sich meiner Meinung nach um eine Art von Unterrüstung. Aber auch als eine Variante einer Einzelrüstung wären sie denkbar. Nicht bekannt ist mir, ob es sich dabei um Kriegsausrüstung, oder beispielsweise «nur» um eine Art Schutzausrüstung, beispielsweise zum Fechten gehandelt haben könnte. Über diesen Punkt – sowie über das ganze Thema hier – können wir gerne gemeinsam in den Kommentaren in den Austausch gehen.


    Bevor der Beitrag von der länger her völlig eskaliert, komme ich nun noch zu dem hier gezeigten Stück, dass evtl. einigen von euch während seiner langen Fertigungsdauer in den letzten Jahren schon einmal hier und da über den Bildschirm flimmerte. Im Frühsommer 2019 startete der von mir als Handwerker und Mensch sehr geschätzte Tomasz Tomecki, vielen hier auch durch seine Firma «AD1410» bekannt, dieses Projekt. Ziel war es, eine Weste aus vier Lagen Leinen zu bauen, die mit vielen einzeln aufgenähten Kettenringen (in diesem Fall mit 12mm Aussendurchmesser) verstärkt wurde. Selbstverständlich alles in Handarbeit… Im September 2020 war die Weste fertig, die optisch dem Stück aus Bern sehr nahe kam. An ihr wurden 2401 Kettenringe verarbeitet. Von einer ordentlichen Portion Motivation – vielleicht auch Wahnsinn? – befallen, entschied sich Tomasz direkt noch im September 2020 aus der Weste ein Koller oder auch Wams zu bauen, dass optisch in eine Zeit «um 1600» passen sollte. Weitere Monate harter Arbeit vergingen und so war im April 2022 - nach rund 3 Jahren Bauzeit - das Projekt abgeschlossen. Ganze 6563 Kettenringe wurden in dieser Zeit von ihm aufgenäht… mir fehlen bis heute die Worte. Das Gesamtgewicht (inkl. der aus Seide hergestellten Ärmel) beläuft sich auf rund 4,7 kg.

    Als dieses Meisterwerk – auch wenn es nur eine Hyptothese ist – zum Verkauf stand, überlegte ich lange. Obwohl es mir zu passen schien, entschied ich mich dagegen, da es keine konkrete Vorlage hatte. Ich ging einige Zeit lang in mich, las mich in das Thema ein und sah das Stück etwas später als eine mögliche Hypothese (wie oben beschrieben) in diesem Kontext nicht mehr als völlig unmöglich an. Die selbstgestellte Frage an mich, ob meine Sammlung solch eine Hypothese vertragen könnte, beantwortete ich mir nun mit ja. Wo könnte so ein Stück denn besser hinpassen als in eine so umfassende Sammlung wie meine? Richtig, eigentlich nirgends. ^^ Und so entschied ich mich vor einiger Zeit doch dafür und bin nun sehr froh über diesen Entscheid. In einem Beitrag wie diesem aufbereitet und mit zeitgenössisch passenden Accessoires, wie dem wunderschönen Birnenhelm, einer schicken Blankwaffe, etc. (tolle Stücke, über die man nochmal so viel Text schreiben könnte) ergibt es das hier zusehende hypothetische Bild, mit dem ich soweit zufrieden bin.

    Eure Meinung dazu werde mich natürlich auch interessieren. Lasst mich gerne wissen, was ihr dazu denkt. :) :thumbup:


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    (Bildquelle: ich)

    Bild oben: Der "Panzerkoller" trägt sich wirklich angenehm. Die ca. 4,7 kg Gesamtgewicht könnte man so auch längere Zeit locker tragen. Mit ein paar weiteren Accessoires und der Ergänzung einiger, aktuell noch fehlenden Kleidungsstücke für diese Epoche, werde ich in der Zukunft gerne weitere Fotos in getragenem Zustand nachreichen.


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    (Bildquellen: AD1410 & ich)

    Bild oben: Knapp 3 Jahre Bauzeit und 6563 verarbeitete Ringe... Was für ein Wahnsinns-Projekt!



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    (Bildquellen: pinterest)

    Bild oben: Hier seht ihr einige der wenigen erhaltenen Stücke, die ich teils oben im Beitrag erwähnt habe. Oben das Stück ist aus Würzburg, unten links das Stück aus Bern. Unten rechts ist ein Stück zusehen, dass in der Veste Coburg ausgestellt ist. Es wurde bei der Jagd verwendet und sollte den Träger dabei vor Tierangriffen schützen. Kettenringe sind allerdings nur im Würzburger Beispiel verarbeitet.

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