Pillbox-Mütze nach Haithabu

  • Pillbox-Mütze nach Haithabu

    Zeit: ca. 9. - 10. Jahrhundert

    Ort: Haithabu

    Material Mütze: naturbrauner Wollköper

    Material Zotten: langfaserige Island-Wolle, Naturschwarz

    Anspruch: fundnah / belegorientiert

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    Ich weiß, was viele von Euch jetzt denken ;)

    "Das soll eine Pillbox-Mütze sein? Die Pillbox-Mütze aus Haithabu?? Kenne ich irgendwie anders…"

    Nun, das liegt vermutlich daran, dass die meisten Rekonstruktionen eben nicht auf den primären Fundbeschreibungen von Inga Hägg basieren, sondern auf diversen Sekundärquellen. Und die sind halt ein klein wenig anders :)

    Aber der Reihe nach:

    Die meisten Wikinger-Darsteller kennen sie, und viele haben sie auch schon einmal genäht. Die Rede ist von der allseits beliebten und bekannten Pillbox-Mütze.

    Ihre Fragmente wurden in einem der Brunnen von Haithabu gefunden. Damit handelt es sich streng genommen 'nur' um einen Streufund. Ein echter Nachweis für die lokale Verwendung in Haithabu als Teil der üblichen Tracht lässt sich daraus nicht ableiten. Allerdings wird ihre Verwendung im Rahmen einer Haithabu-Darstellung weitgehend akzeptiert.

    Die Fragmente an sich sind recht überschaubar: Ein Stück des Seitenteils, und daran angenäht ein Teil der Kalotte.

    Inga Hägg schreibt dazu:

    "Fragment S 35 (1968; obere Schicht aus Brunneninhalt). Teil einer Kappe aus sehr feinem, auf beiden Seiten gerauhtem Gleichgratköper 2/2. [...] Das Fragment setzt sich aus zwei durch eine Naht verbundene Teile zusammen (Teil a—b), deren Schnittkanten bei der Naht einmal nach außen umgefalzt sind; erhaltene Größe 15x32 cm. Der genähte Rand von Teil a ist in Bogenform geschnitten, Teil b schließt sich der Rundung an. Zusammen bilden sie ein Muster, das aus einem oberen gewölbten Scheitelteil und geraden Seiten besteht. Der ursprüngliche Umkreis sowie die Höhe der Kappe können nicht mehr bestimmt werden."

    Eine sehr ähnliche Kappe findet sich im niederländischen Leens. Mit dem großen Unterschied, dass diese weitaus besser erhalten ist als die aus Haithabu.

    Deswegen orientieren sich die meisten Rekonstruktionen - siehe oben - der Einfachheit halber auch direkt an diesem Modell. Zeichnungen, Schnittmuster und Anleitungen gibt's dafür (also für die Leens-Kappe) im Internet reichlich zu finden.

    Das ist zwar recht praktisch, andererseits aber auch sehr schade. Denn die Haithabu-Mütze zeigt ein hoch interessantes Detail, welches sie von anderen gefundenen Pillbox-Mützen unterscheidet. Und genau dieses Detail wird so gut wie immer übersehen und deswegen nicht rekonstruiert:

    Die Fragmente S35 zeigen nämlich eine Reihe von Zotten auf der Außenseite, sowie zahlreiche Knötchen. Hägg schreibt:

    "An einigen Stellen sind noch kleine, dunkle Zotten erhalten, und an vielen Stellen sind Knoten erkennbar. Ursprünglich dürfte die ganze nach außen gewandte Oberfläche mit derartigen, besonders eingearbeiteten Zotten versehen gewesen sein. Sie bilden zusammen mit den durch Rauhung aus dem Gewebe losgekratzten Faserenden einen dichten, pelzähnlichen Faserflor."

    Hägg klassifiziert das Gewebe der Mütze somit eindeutig als Zottengewebe. Dadurch reiht sich die Mütze perfekt in die anderen Zottengewebe aus dem Hafen von Haithabu und der Plessen-B-Serie aus Schleswig ein.

    Kleine Besonderheit bei dem Fragment aus Haithabu: die Zotten sind - anders als bei den Villosa-Geweben - nicht eingewebt, sondern nachträglich eingenäht worden:

    "Die Zotten sind dicht nebeneinander - durch ca. sechs Kettfäden und einen Schußfaden voneinander getrennt - mit einer Nadel eingenäht worden, wie sich vor allem dadurch erkennen läßt, daß eine Zotte mitunter auch durch einen Webfaden gezogen ist."

    Für meine Rekonstruktion habe ich zunächst aus einem naturbraunen und leicht gerauhten 2/2-Wollköper eine einfache Pillbox-Mütze genäht.

    Beim Schnitt habe auch ich mich am Modell aus Leens orientiert und die Kappe aus zwei Teilen genäht - einem ovalen Oberteil, und einem umlaufenden Streifen, den ich hinten vernäht habe. Aus Schusseligkeit (und natürlich aus Gewohnheit) habe ich meine Nähte nach innen gesetzt, nicht wie bei S35 nach außen. Was zunächst ungewöhnlich erscheint, macht angesichts der Zotten, die die komplette Außenseite bedecken, wieder Sinn. Denn dadurch sieht man die Nähte außen nicht, und gleichzeitig ist die Innenseite schön glatt und nahtlos. Egal, vielleicht denke ich beim nächsten Exemplar daran.

    Die Zotten bestehen laut der Untersuchung von Inga Hägg aus "einheitlich groben und langen Haaren".

    Deswegen habe ich für meine Zotten locker gesponnenes, langfaseriges Island-Garn verwendet, was meiner Meinung nach gut zu der Beschreibung passt.

    Das Einarbeiten der Zotten ist eine zeitaufwändige Fleißarbeit. Ich habe mit einem langen Faden genäht, mit dem ich auf der Außenseite Schlaufen gebildet habe. Ähnlich wie bei einem Teppich. Die Schlaufen habe ich einfach am Ende in der Mitte durchgeschnitten. Keine Ahnung, ob das die korrekte Technik von damals widerspiegelt. Aber es ist praktisch und hat gut funktioniert.

    Nach dem Einnähen und Durchtrennen habe ich die Fäden auf eine Länge geschnitten, gekämmt, und sehr lange und intensiv mit einer Bürste gebürstet.

    Dadurch hat sich wirklich ein Fell-ähnliches Aussehen ergeben. Im Grunde erinnert das Ding jetzt eher an eine russische Bärenfell-Mütze statt an eine Pillbox.

    Momentan schwanke ich noch zwischen 'Bah was ist die hässlich' und 'eigentlich ganz cool'.

    Aber zumindest hat diese Rekonstruktion definitiv Seltenheitswert :)

    Zeitaufwand: Ein Abend für die Mütze selbst, und drei weitere länge Abende für die Zotten. Ganz so oft werde ich das Ding vermutlich nicht nähen…

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