Zelte - Leinen alternativlos oder nicht?

  • Wie im Thread zu Wolle angesprochen, möchte ich hier das Thema Zelte und Zeltstoff angehen.

    Zuerst müssen wir eine Floskel aufdröseln, die leider immer wieder verbreitet wird: Leinen quillt und schließt damit die Poren und ist wasserdicht. Das ist falsch! Problem ist, dass sich außer der MA Szene die letzten 125 Jahre niemand für unbehandelten Zeltstoff interessiert hat, seit 1898 das Öltuch industrialisiert wurde.

    Wie funktioniert Leinen?

    Leinen ist im Kontext Zelt eine Barriere, wie jede andere und folgt denselben Naturgesetzen, wie jede andere Barriere. Ein Objekt (aktiv) trifft, mit einer gewissen Energie auf etwas, dass eine gegen gesetzte Energie darstellt (passiv), die Barriere hält so lange, wie die passive Kraft stärker ist als die passive. Das kann man auf Rüstung, Schildwälle, Straßensperren, moderne Panzerung und sogar Körperfunktionen wie Stuhlgang anwenden.

    Bei Leinen ist die passive Kraft das Halten von Wasser im Gewebe (Adhäsion), das Leinen saugt sich mit Wasser voll, lässt es aber nicht durch, da es durch die Wasserspannung eine Barriere bildet. Das nennt man auch Wassersäule*

    Effekt: Außen Regen, innen kein Regen.

    Trift nun ein weiterer Tropfen auf das Gewebe, addiert er sich zu dem, auf diesem Gewebestück herrschenden, Druck auf die Barriere. Wird dieser Druck zunehmend stärker und übersteigt die Kraft der Barriere, "drückt" sich das Wasser in die Bariere - und auf der anderen Seite wird Wasser aus der Barriere gestoßen.

    Effekt: Außen Regen, innen kein Regen - aber es tropft. Je stärker, desto nerviger.

    Diese Beispiele gelten für waagrecht gespanntes Tuch.

    Jetzt kommt der nächste Faktor, der Winkel:

    Der erste Tropfen, der auf das gesättigte Gewebe trifft, "schwimmt" auf der Oberfläche. Ist das Gewebe angewinkelt, kommt wieder Physik ins Spiel, der Tropfen strebt der Erde zu, entsprechend seinem Eigengewicht. Somit setzt er sich in Bewegung und der initiale Druck auf die Fläche, auf der er eben noch war, nimmt wieder ab. Je steiler der Winkel, desto schneller bewegt sich der Tropfen Richtung Erde.

    Effekt: Der Druck auf die Barriere vermindert sich, da sich die Tropfen nicht permanent an einer Position sammeln.

    Letzter Faktor: Adhäsion und Spannung der Wasseroberfläche. Berührt man den Wasserfilm, kreiert man einen Kontaktpunkt, wo die Spannung schwächer wird und Wasser nachfließen kann.

    Effekt: Es tropft.

    Daraus lassen sich bestimmte Regeln ableiten:

    - Jedes Gewebe, das in der Lage ist, Wasser zu binden, ist per se geeignet

    - Je steiler die Zeltwand, desto dünner darf der Stoff sein (und vice versa)

    - Alles, das die Oberflächenspannung herabsetzt, schadet der Wassersäule (z.b. Seife)

    - Je "härter" der Stoff gespannt wird, desto schneller "gleitet" der "Restregen" ab

    Das folgende bezieht sich grösstenteils auf das Buch "Tents and tent-life from the earliest ages to the present time: To which is added the practice of encamping an army in ancient and modern times."

    - Godfrey Rhode 1885

    Hierbei ist wichtig, zu beachten:

    - Rhode schrieb das Buch, bevor die industrailiserte Öltuch Herstellung möglich war

    - Rhode war in erster Linie Offizier

    - Das Buch sollte eine praktische Abhandlung sein, aus Sicht eines Handwerkers

    Das Ziel war, Lösungen zu erarbeiten, um die britische Armee besser vor Wetter zu schützen. Dies basierte auf Rhodes Erfahrungen auf der Krim.

    (Wichtige Begriffe belasse ich in English, soweit nötig)

    Der Chronist Froissart, Ende 14tes Jahrhundert, schreibt in "Geschichte der Fürsten Burgunds", über ein Treffen zu Friedengesprächen 1393 in der Siedlung Lelinghe.

    Das Zelt des Grafen von Burgund wurde beschrieben wie folgt: "Sein suberbes Zelt war gemacht aus Holzplanken und bezogen mit paintet canvas." - painted ist hier wichtig.

    Für 1476 beschreibt Froissart ein Zelt des Herzogs von Burgund wie folgt: "Das Zelt des Herzogs war gross und herrlich, und wie üblich durch vertikale Zeltstangen gestützt. Die Aussenhaut war aus coloured canvas, das Innenzelt war gefüttert mit rotem Samt und reichhaltiger Seide" - hier schreibt er "eingefärbt" - dieses Zelt fiel am 2. März 1476 den Schweizern bei einem Gefecht bei Granson in die Hände.

    Ähnlich wie in Wolfram von Eschenbachs Parzival beschreibt dies Samt und Seide als Innenzelt. Jetzt könnte man annehmen, dass Rhodes eben bemalte, farbige Zelte beschrieb.

    Aber im Vorwort schreibt er über den Medizinischen General-Inspekteur der Armee: Er empfiehlt das Auslegen von Teppichen aus painted canvas, um die Feuchtigkeit am Aufsteigen zu hindern!"

    Bemalt macht hier keinen Sinn, es scheint eine Imprägnierung gemeint zu sein. Interessant ist hier auch der Begriff "canvas".

    Das Material

    Rhodes benutzt in seinem Buch sowohl die Begriffe Canvas als auch Linen für gewebte Tuche. Heute ist Canvas ein "household word" für Segeltuch in Gleichgratwebung, im Englischen beschreibt es Leinwand - meist aus Baumwolle.

    Aber vor der Jahrhundertwende war Canvas anders besetzt, Canvas stammt grob aus dem 13. Jahrhundert und ist ein Lehnwort aus dem angelsächsischen Canevaz und dem altfranzösischen Canevas (Leinwand), beides leitet sich aus für Cannabis „aus Hanf“ (lateinisch Cannapaceus) und aus dem griechischen Wort κάνναβις (Kannabis).

    Das heißt, Rhodes beschreibt, wenn er nicht explizit Leinen beschreibt, Hanfstoff. Und tatsächlich ist Hanfstoff der bessere Zeltstoff, seine Wasseraufnahmefähigkeit liegt bei 12%, die von Leinen bei ca 10%. Zudem ist Hanf noch weniger dehnbar, lässt sich also auch besser abspannen. Wolle beschreibt Rhodes interessanterweise nur für trocken-kalte Regionen, oder in Form von Filz. Alternativ wird auch vereinzelt der Begriff "hempen canvas" also denfinitv Atlasköper aus Hanf, verwendet.

    Rhodes beschreibt ein Kegelzelt aus Canvas für 12 Personen mir ca 23kg Gewicht, ohne Stange.

    Zur Imprägnierung von Baumwoll(!) Canvas schrieb der Author Nessmuk 1884 "Zu 10 Litern Wasser füge 10 Unzen Kalk (lime) und 4 Unzen Alaun, lass es stehen, bis es klar ist

    Falten Sie das Tuch eng zusammen, legen Sie es in ein anderes Gefäß und gießen Sie die Lösung darauf. 12 Stunden einwirken lassen; dann in lauwarmem Regenwasser abspülen, dehnen und in der Sonne trocknen, und das Zelt ist einsatzbereit." --> Bereits da war klar, Baumwolle ohne Behandlung, doofe Idee.

    Die US Arme hat interessanterweise versucht, ca 1870, die Canvas Zelte gegen preiswertere Baumwollzelte zu ersetzen, scheiterte aber an der Imprägnierung.

    Was ziehe ich aus diesem Buch?

    Hanf scheint der bessere und verbreitetere Zeltstoff gewesen zu sein, die Gewichtsangaben lassen moderne Repliken, aus meiner Sicht, zu schwer erscheinen. Eine Imprägnierung, auch im Mittelleiter, erscheint mir realistisch. Viele Keilzelte im MA Bereich erscheinen mir zu sehr an modernes Befinden angepasst (meist sind sie breiter als die Abbildungen, für mehr Platz (und shizzle), was dickeres Gewebe nötig macht - was wiederum niemand stört, weil der Transport mit dem Auto erfolgt. Die Alternativlosigkeit von Leinen halte ich für sehr fragwürdig.

    Die in den Sagas erwähnten Svarttents halte ich mittlerweile nicht mehr für Wollzelte, sondern eher geteerte Leinen oder Hanf / Nesselplanen.


    Quellen:

    Tents and tent-life from the earliest ages to the present time - Godfrey Rhodes

    Woodcraft and Camping - George Washington Sears

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