Mythen über 'Leder im Mittelalter'

  • Mythos: Im Mittelalter war alles aus Leder, es gab jede Menge davon, und jeder hat sein eigenes Leder hergestellt…

    So oder ähnlich hört man es immer wieder. Long Story short: alles daran ist Quatsch! Aber der Reihe nach…

    Mythos: Im Mittelalter war alles Mögliche aus Leder - Hemden, Hosen, Mäntel, Gugeln - einfach alles. Und bloß, weil man es noch nicht gefunden hat…

    Leider nein, leider gar nicht. Von der Antike bis zur Neuzeit existieren unzählige archäologische Funde aus Leder. Aus jeder Epoche, von nahezu jeder Fundstelle. Es gibt Schuhe ohne Ende, etliche Beutel und Taschen, Gürtel, Riemen, Messerscheiden und Etuis, Pferdegeschirr, sogar vereinzelt Spielzeug wie Bälle und Tierfiguren. Dickes Leder, dünnes Leder, super feines Leder.

    Aaaber: trotz buchstäblich Millionen von erhaltenen Lederfunden keine Lederhosen, Lederhemden, Lederumhänge, Ledergugeln. Das inflationäre Auftreten etlicher von-Kopf-bis-Fuß in Leder gewandeten Middelaldamarkt-Besuchern hat es in der Realität nie gegeben. Nirgends. Niemals. Wer also auf eine halbwegs gescheite Darstellung Wert legt, orientiert sich lieber an den Funden statt an Hollywood und Terra-Taugt-Nix.


    Mythos: Leder ist Leder, und man kann aus jedem Tier Leder herstellen.

    Grundsätzlich ist das (zumindest für Wirbeltiere) sogar richtig. Allerdings hat das Leder jedes Tieres individuelle Eigenschaften, und nicht jedes Leder ist für jeden Einsatzzweck gleichermaßen geeignet.

    Schuhsohlen beispielsweise müssen besonders robust sein und wurden deswegen zu jeder Zeit fast ausschließlich aus dem Leder des Nacken- und Rückenbereichs von Rindern gefertigt. Besonders häufig wurde Ziegenleder verwendet. Es ist dünner und flexibler als Rindsleder und eignet sich zum Beispiel hervorragend für das Oberleder von Schuhen, Beuteln, Taschen und - gefaltet und vernäht - auch für Gürtel. Viele andere Tierarten eignen sich nur sehr bedingt oder gar nicht zur Lederherstellung, weswegen sie im Fundgut auch nicht vertreten sind.


    Mythos: Leder war im Mittelalter in großen Mengen und gut verfügbar.

    Heute sind die Häute, aus denen das Leder gemacht wird, ein Nebenprodukt der Fleischindustrie, und dementsprechend im Übermaß vorhanden. Nur können und dürfen wir die heutigen Maßstäbe nicht einfach so auf das Mittelalter übertragen.

    Die moderne intensive Massentierhaltung auf engstem Raum mit optimierter Fütterung und beschleunigtem Wachstum der Tiere gab es im Mittelalter noch nicht. Dort erforderte die Tierhaltung erheblich mehr Platz und Ressourcen, die Tiere waren entsprechend wertvoller. Die Haltung ausschließen zum Fleischkonsum war deutlich geringer ausgeprägt als heute, und somit auch die Menge der zur Lederverarbeitung zur Verfügung stehenden Tierhäute.


    Mythos: Man musste die Tiere gar nicht selbst halten, sondern konnte doch einfach im Wald jagen gehen…

    Na ja, zunächst einmal durfte und konnte nicht jeder Mensch zu jeder Zeit einfach so jagen, wann und wo und wie er wollte. Aber viel entscheidender ist wieder einmal die Fundlage. Leder vom Wild ist im Fundgut nur in minimalen Mengen vertreten. In Haithabu beispielsweise gerade mal mit 2% von allen Funden.


    Mythos: Jeder hat sich die Tiere für sein Leder selbst gehalten.

    Dafür müssen wir jetzt ein wenig weiter ausholen.

    So ein Tier musste man sich auch leisten können. Während zum Beispiel Hühner, Schafe und Ziegen recht günstig und genügsam sind, schaut das bei größeren Nutztieren ganz anders aus.

    Um 1300 kostete in England ein Huhn 1 ½ Pence, ein Schaf 10 Pence, aber ein Rind satte 120 Pence. Ein Zimmermann - stellvertretend für einen Handwerker - verdiente zu der Zeit um die 3 englische Pfund im Jahr. Er hätte also zwei komplette Monatseinkommen zurücklegen müssen, nur um sich ein einziges Rind kaufen zu können.

    Das ist aber nur allein die Anschaffung, hinzu kommt noch der tägliche Unterhalt. Dazu auch ein paar Berechnungen:

    Ein Rind benötigt täglich ca. 50 bis 70 Kilogramm Gras. Um diese Menge auf einer Weide während der Sommermonate von Mai bis Oktober durchgängig zu produzieren, ist eine Fläche von einem bis anderthalb Hektar notwendig. Das entspricht rund zwei Fußballfeldern.

    Zusätzlich muss das Rind auch noch über den Winter gebracht werden. Dazu sind durchschnittlich 15 Kilogramm Heu pro Tag notwendig, was sich über den gesamten Winter auf rund 2,5 Tonnen Heu summiert. Für diese Menge wird ein zusätzlicher halber Hektar Wiesenfläche benötigt.

    Im Winter kommt noch Stroh als Einstreu dazu, insgesamt rund 300 Kilogramm. Macht weitere 500 Quadratmeter Land, auf dem das erforderliche Getreide angebaut werden muss.

    Dieses Heu und Stroh hat ein Volumen von 24 bis 30 Kubikmetern, was grob einer normalen Einzelgarage entspricht.

    Nun ist ein Rind auch noch durstig und benötigt bei Ernährung nur mit Heu mindestens 50 - 70 Liter Wasser am Tag. Das kam nicht einfach aus der Leitung, sondern man benötigte einen Brunnen, der diese Menge täglich auch im Winter zuverlässig liefern konnte.

    Alles zusammen brauchen wir bei einem einzelnen Rind für Gras, Heu und Stroh also eine Fläche von rund drei Fußballfeldern, einen Stall für den Winter, garagengroßen Raum an Lagerfläche, plus einen ergiebigen Brunnen. Das war nichts, was jedermann 'mal einfach so' hatte. Alleine die zwei Hektar Land hätten in Stadtnähe in dieser Zeit bis zu 2 Pfund Sterling gekostet, also fast das gesamte Jahreseinkommen unseres beispielhaft angenommenen Zimmermanns.

    Nur zum Vergleich: baut man auf der gleichen Fläche Weizen an, kann man in einem normalen Jahr 15 - 20 Tonnen davon ernten. Damit lassen sich - statt eines Rinds - bis zu 100 Personen ein Jahr lang ernähren.


    Mythos: Jeder im Mittelalter hat sein eigenes Leder hergestellt.

    Ganz gewiss nicht… Denn von der Haut eines Tieres bis zum Leder ist es noch ein weiter Weg.

    Die Lederherstellung begann mit dem Abziehen und Enthaaren der Tierhaut, gefolgt vom Entfleischen, um alle Fleisch- und Fettreste zu entfernen. Die Haut wurde dann in Wasser eingeweicht, um sie für das Gerben vorzubereiten. Anschließend wurde sie für Wochen bis Monate in einer Gerbgrube mit Gerbstoffen eingelegt, um das Leder haltbar zu machen. Nach dem Gerben wurde das Leder getrocknet, gefettet und weich gemacht. Für diese Prozesse waren Materialien wie Kalk, Asche, Gerbstoffe, Fette und verschiedene Werkzeuge (Messer, Schaber, Streckrahmen) sowie die notwendigen Kenntnisse über alle diese Vorgänge erforderlich.

    Das Gerben selbst benötigt viel Wasser und Platz und ist sowohl mit einer sehr intensiven Geruchsbildung als auch mit hohen gesundheitlichen Risiken verbunden. Deswegen war die Tätigkeit der Gerber - wenn auch notwendig - nicht unbedingt sehr angesehen, und ihre Arbeitsstellen befanden sich stets am Rande oder außerhalb einer Siedlung.

    Zurück zu unserem als Beispiel dienenden Zimmermann. Selbst wenn er die Kenntnisse, Werkzeuge und sonstigen Voraussetzungen gehabt hätte, würde er eine zusätzliche Produktionsstätte außerhalb der Siedlung/Dorf/Stadt benötigen sowie die Zeit, sich noch neben seinem Beruf darum zu kümmern.

    Wie sinnvoll und wahrscheinlich ist, darf nun jeder für sich selbst entscheiden.

    _________________________

    Quellen:

    Die Lederfunde von Haithabu, Willy Groenman-van Waateringe, 1984

    History of Agriculture and Prices in England, James E. T. Rogers, 1866

    https://www.dein-bauernhof.de/

    http://www.bioland.de

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